Alternativlos? Demokratische Freiheit in der Krise

Rainer Forst: In der derzeitigen Krise darf nicht unversehens ein demokratisches durch ein autoritäres Staatsverständnis ersetzt werden

Rainer Forst

Von Rainer Forst, Professor für Politische Theorie und Philosophie, Normative Ordnungen, Goethe-Universität

Es müssen starke moralische Gründe vorliegen, um all die Freiheitsrechte (und Lebensmöglichkeiten) zu übertrumpfen, die derzeit außer Kraft gesetzt sind. Der Lebensschutz stellt solch einen Trumpf dar, und an dem Verhalten der (meisten) Menschen lässt sich eine hohe Akzeptanz der temporären Maßnahmen ablesen. Da dieses Verhalten rechtlich erzwungen wird, muss als Gradmesser für weitgehende Einigkeit die „öffentliche Meinung“ gelten, eine (auch über Umfragen) allerdings nur schwer zu bestimmende Größe unseres Zusammenlebens. Jedenfalls ist das Ziel, die Ansteckungsrate gering zu halten, um Infizierte medizinisch versorgen zu können, wohlbegründet und breit geteilt. Dem liegt kein Zauber zugrunde, und das soziologische Augenreiben, wie das alles plötzlich geht, darf nicht übersehen, dass hier nicht nur altruistische Gründe am Werk sind, sondern zugleich auch solche des Selbstschutzes. Das wirkt (derzeit).

Aus der Sicht der politischen Philosophie ist allerdings der Geist dieser Einigkeit relevant. Denn Kampfvokabeln wie „Ausnahmezustand“ oder „Krieg“ bedeuten für viele, dass wir derzeit unsere Freiheiten an andere übergeben haben, die damit schalten und walten können, um uns auch vor uns selbst zu schützen. Und hier liegt die Gefahr der Rede von „Alternativlosigkeit“, denn sie beraubt uns in dreifacher Hinsicht unserer Freiheit. Erstens muss die genannte Akzeptanz, trotz des begrenzten Wissens von Laien, Resultat der eigenen Urteilskraft bleiben; auch das Vertrauen in Expertenmeinungen bleibt ein freier Akt. Zweitens, wichtiger noch, entspricht es einer (in Deutschland noch immer anzutreffenden) autoritären Staatsvorstellung, dass „der Staat“ nun die Freiheiten des Handelns besitzt, die wir vorher besaßen. Im Gegensatz dazu muss in einer Demokratie eine legitime Freiheitsbeschränkung selbst als Akt der Freiheit angesehen werden. So kommen überhaupt erst Freiheitsrechte zustande, die wechselseitig gerechtfertigte Freiheitsräume und -grenzen markieren, und so allein kann eine temporäre Beschränkung von Rechten begründet werden: als demokratischer Akt derer, die dem (am besten) zustimmen konnten oder zumindest (sofern Ersteres nicht explizit möglich ist) zustimmen könnten, wenn sie sich als oberste Gesetzgeber begreifen. Das ist, so Kant, der „Probierstein“ der Rechtmäßigkeit öffentlicher Gesetze und auch von Verordnungen, die so tiefgreifend sind. Sonst gerät die Demokratie selbst in die Krise.

Drittens muss eine demokratische Rechtfertigungsgemeinschaft davon ausgehen, dass alle Maßnahmen, die einem gemeinsamen Ziel dienen, beständig geprüft und im Modus des öffentlichen Vernunftgebrauchs diskutiert werden. Wir unternehmen derzeit ein großes Experiment, bei dem wir täglich lernen müssen, auch von anderen Ländern, und dies erfordert Konsequenz ebenso wie die Bereitschaft zur Revision. Auch die richtige Maßnahme bleibt eine unter verschiedenen Alternativen.

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