Von Ernst-Ludwig von Thadden, Universität Mannheim
Die Entscheidung der Bundesregierung Mitte März, das soziale und wirtschaftliche Leben des Landes weitgehend zu unterbrechen, kam spät, aber hoffentlich nicht zu spät. Wir beginnen erst jetzt zu verstehen, dass die bis dahin gefahrene Politik diese Epidemie nicht aufhalten konnte, denn der Großteil der Infizierten hat keine oder nur leichte Symptome, und wer klare Symptome entwickelt, ist meistens schon vorher ansteckend. Eine Strategie, nur schwerer Erkrankte zu testen und die meisten symptomatischen Patienten zu bitten, sich zu Hause auszukurieren, greift nicht wirklich in die Infektionsketten ein und muss in dieser Situation scheitern.
Diese Erkenntnis bedeutet aber auch, dass der konsequente Kampf gegen die Epidemie einen unglaublich hohen Preis hat, einen der höher ist als alles, was wir sonst in der Wirtschafts- und Sozialpolitik kennen, in der wir ja typischerweise graduell denken: ein höheres oder niedrigeres Budget, etwas stärkere oder schwächere Vorgaben. Denn in unserem jetzigen Kampf gegen die Exponentialfunktion kann die Ausbreitung des Virus nur dadurch gestoppt werden, dass praktisch alle physischen zwischenmenschlichen Kontakte weitgehend eingestellt werden, außer denen innerhalb von Haushalten und medizinischen Einrichtungen. Eine Politik mit einem derart hohen Preis, und zwar in sozialer, politischer und materieller Hinsicht, ist außer in Kriegszeiten unerhört und kann nur von kurzer Dauer sein, zumal sie bestimmte Bevölkerungsgruppen disproportional schwer trifft und bei längerer Dauer Rückkoppelungseffekte bewirkt, die zum gesamtwirtschaftlichen Desaster führen. Das große Problem ist aber, dass die häufig vorgebrachte Folgerung aus dieser Beobachtung, nämlich dass die Politik die Einschränkungen bald lockern müsse, gerade wegen des „alles-oder-nichts-Charakters“ der Epidemie so nicht möglich ist. Mediziner, Biologen und Sozialwissenschaftler wissen noch nicht genau, wie sich der Virus ausbreitet; wir lernen es mit erheblichem Verzug, und können es aus aggregierten Daten auch nur sehr begrenzt lernen. Welche Aspekte des gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen Stillstandes also für einen etwaigen Erfolg epidemiologisch entscheidend sind und welche weniger wichtig, welche wohlmöglich sogar nicht hinreichend streng formuliert sind, wissen wir nicht genau.
Es geht also nicht darum, ob und wann wir die gegenwärtigen Vorschriften lockern. Es geht darum, so schnell wie möglich zu lernen, welche Vorschriften oder kollektiven Verhaltensweisen was bewirken, und dann gegebenenfalls punktuell schnell zu handeln. Wir müssen also experimentieren und adaptiv denken. Und zwar müssen wir auf breiter Ebene experimentieren, und wir müssen diese Experimente wissenschaftlich auswerten. Wir müssen Vorschriften und Verbote variieren und, räumlich und zeitlich begrenzt, unterschiedlich einsetzen und dies koordinieren und dokumentieren. Ist es besser, Kitas zu öffnen und Grundschulen zu schließen oder umgekehrt? Kann man beide öffnen? Unter welchen Randbedingungen? Wie gefährlich sind welche Versammlungen unter freiem Himmel? Was bringt und kostet es, öffentliche Parks summarisch zu schließen? Was bewirkt die rigorose Abschottung ganzer Städte? Wie wirkt eine durch Geolokalisierung durchgesetzte Kontaktsperre für bestimmte Bevölkerungsgruppen? Wie entwickelt sich ein Flüchtlingslager auf einer ägäischen Insel, auf dem man durch eine weitgehende Evakuierung nach Deutschland menschenwürdige Zustände herstellt, im Vergleich zu einem anderen Lager, in dem das nicht geschieht?
Politik und Gesellschaft tun sich, gerade in Deutschland, normalerweise schwer damit, staatliche Eingriffe diskriminierend einzusetzen, auf Grund einer strengen Interpretation des Gleichheitsgrundsatzes, dass alle Bürger gleiche Rechte haben und deswegen gleich behandelt werden müssen. In einer Situation extremer Unsicherheit darüber, was eine solche Behandlung überhaupt bewirkt, ist diese Interpretation aber fragwürdig. Denn unterschiedliche Behandlung ist die beste Möglichkeit zu lernen – genauso wie man in der Medizin Medikamente in kontrollierten Experimenten an Menschen testet. Wegen der langen Verzögerung in der Infektionsdynamik von Covid-19 und der nötigen wissenschaftlichen Auswertung werden nicht alle solche sozialen Experimente für die jetzige Katastrophenlage sofort umsetzbare Ergebnisse liefern. Aber viele werden Hinweise geben, und alle werden für die Zukunft wichtige Einsichten liefern. Denn auch wenn der gegenwärtige Ausbruch in Deutschland im Mai gestoppt sein sollte, die Epidemie ist es noch lange nicht, und ähnliche Ereignisse werden sich in einer immer stärker vernetzten Welt in der Zukunft wiederholen. Dann werden wir froh sein, die jetzige Katastrophe genutzt zu haben, um verlässliche Daten zu generieren und zu sammeln, vielleicht auch um den Preis der kurzfristigen Aufgabe gewisser datenschutzrechtlicher Grundrechte oder auf der Basis von diskriminierenden Maßnahmen. Und wenn die Idee des kontrollierten sozialen Experimentes und der regulatorischen Adaptivität dank dieser Erfahrung in Deutschland stärkere Akzeptanz findet, wäre dies ein langfristiger Gewinn aus der gegenwärtigen Katastrophe.
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