Alternativlos? Auch eine Frage der Ressourcengerechtigkeit

Klaus Günther: Die gerechte Herstellung und Verteilung von schutzpflichtrelevanten Ressourcen ist eine globale Aufgabe, bei deren Lösung die Stimme eines jeden Menschen gleichermaßen zu zählen hat

Klaus Günther

Von Klaus Günther, Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Strafprozessrecht, Normative Ordnungen, Goethe-Universität

Die aktuellen Maßnahmen – vor allem Beschränkungen von Freiheitsrechten - werden damit gerechtfertigt, dass sie allein in der Lage seien, die Infektionsgeschwindigkeit zu verlangsamen und dadurch Zeit zu gewinnen für die Bereitstellung intensivmedizinischer Kapazität. Dies sei notwendig, um das Leben möglichst vieler Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören, vor einem mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlichen Verlauf der Krankheit zu bewahren. Vorrangiger Grund für die Einschränkung der Freiheitsrechte ist also der höhere Rang des Rechts auf Leben und, korrespondierend, der Pflicht, das Leben zu schützen. Unter den vielen Fragen, die sich dabei stellen, will ich nur die nach der Gerechtigkeit bei der Erfüllung der Schutzpflicht herausgreifen.

Die Erfüllung einer Schutzpflicht gegenüber der einen Risikogruppe darf trivialerweise nicht in Konkurrenz zur gleichzeitigen und gleichrangigen Pflicht gegenüber anderen geraten. Doch kann eine solche Konkurrenz überhaupt erst auftreten, wenn tatsächlich auch effektive Möglichkeiten für Schutz und Rettung zur Verfügung stehen. Die positive Pflicht, Leben zu schützen, kann immer nur relativ dazu gelten. Jenseits dessen, was im konkreten Fall zu tun möglich ist, handelt es sich (wie z.B. früher bei einer Pestepidemie (1)) um trauriges Schicksal. Im aktuellen Fall geht es vor allem um die Ressourcen des Gesundheitssystems. Diese müssen durch das komplexe System der gesellschaftlichen Zusammenarbeit erst hergestellt und reproduziert werden (Rawls), und zwar so, dass auch noch andere (lebenswichtige) Güter gleichzeitig hergestellt werden können. Wie diese Zusammenarbeit für alle Beteiligten gerecht zu ordnen (z.B. aktuell u.a. durch Beschränkung von Freiheitsrechten und infolgedessen Drosselung der Produktion einiger Güter) und ihre Früchte gerecht zu verteilen sind, ist eine offene Frage, die nur von allen Beteiligten entschieden werden kann.

Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf Leben, aber die in Zusammenarbeit hergestellten Ressourcen für seinen Schutz sind ungleich verteilt. Das ist kein Problem alternativloser Maßnahmen (und auch nicht nur der aktuellen Pandemie), sondern eines der distributiven Ungerechtigkeit. Unter den vielen Gründen dafür ist aktuell das fast ausschließlich nationalstaatliche Ressourcenmanagement besonders skandalös. Im Augenblick entscheidet vor allem der Zufall der Staatsangehörigkeit darüber, ob und in welchem Umfang ein*e schwerwiegend Erkrankte*r eine Chance auf intensivmedizinische Behandlung hat. D.h., wir sind gerade Zeugen einer globalen Triage durch nationalstaatliche ex ante-Konkurrenz. Und bei der vorhersehbaren Menschheitskatastrophe auf der Insel Lesbos wird sich, leider wieder einmal, Hannah Arendts Satz bewahrheiten, dass es vor allem die Geflüchteten sind, denen das Recht, Rechte zu haben, abgesprochen wird.


(1) Frau Dr. Sonja Breustedt danke ich für diesen Hinweis.

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