Die Tatsachen, die Alternativen und die Zukunft in der Corona-Krise

Gunther Hellmann: Auch die Wissenschaft muss sich in dieser Krise fragen, was aus den existentiellen Ungewissheiten, die fehlendes Wissen schafft, für die Beratung der Gesellschaft folgt

Gunther Hellmann

Von Gunther Hellmann, Goethe-Universität Frankfurt

Die Corona-Krise macht vieles neu bewusst – u.a. wie wichtig und begrenzt zugleich das Wissen, auch das Wissen der Wissenschaft ist und wie zurückhaltend wir mit unseren wissenschaftlichen Geltungsansprüchen umgehen sollten. Im „Positivismusstreit“ hat Adorno Popper zumindest dahingehend nicht widersprochen, dass „die Erkenntnis nicht mit Wahrnehmungen oder Beobachtungen oder der Sammlung von Daten oder von Tatsachen“ beginne, sondern mit „Problemen“: „Kein Wissen ohne Probleme – aber auch kein Problem ohne Wissen.“ Eines der Probleme der Corona-Krise ist, dass wir in mancherlei Hinsicht noch nicht einmal wissen, wie genau wir die zu erforschenden Probleme formulieren sollen – eben weil auch wir als Wissenschaftler noch zu wenig wissen.

„Tatsachen“ sind vor diesem Hintergrund gegenwärtig genauso rar wie handlungsleitende „Alternativen“. Alternativlosigkeit ist nur die Kehrseite derselben Medaille. Es sind Begrifflichkeiten im Vokabular eines Ausnahmezustandsdiskurses, in dem Handeln überaus dringlich erscheint, die Voraussetzungen rationaler Entscheidung aber prekärer denn je sind, weil wir viel zu wenig wissen und daher die Fehlerwahrscheinlichkeit im Handeln steigt. Recht eigentlich sind aber Tatsachen und Alternativen nicht rarer als in anderen Zeiten. Der Unterschied ist, dass Corona uns im alltäglichen medialen Diskurs – der mehr denn je geprägt ist von „der Wissenschaft“ – eine existenzielle Form von Ungewissheit vor Augen führt wie wir sie zu anderen Zeiten deshalb hintanstellen können, weil wir der Überzeugung sind, Gewissheit zu haben.

Ludwig Wittgenstein und John Dewey waren nicht die ersten, die die szientistischen Illusionen des Strebens nach Gewissheit geißelten und – wie Wittgenstein – daran erinnerten, dass „das Wissen (…) sich am Schluß auf der Anerkennung“ gründet (Über Gewissheit, § 378). In der englischen Übersetzung („Knowledge is in the end based on acknowledgement.“) klingt das sogar noch eingängiger, weil es die interne Verbindung zwischen Wissen und Anerkennung auf dieselbe sprachliche Wurzel zurückführt. Dieselbe Koppelung gilt auch für Tatsachen und Alternativen bzw. Alternativlosigkeit – sie alle müssen zunächst behauptet und dann anerkannt bzw. zurückgewiesen werden.

Wenn etwa im „Erwartungsmanagement“ der wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise im Münchener ifo-Institut Projektionen angestellt werden, die vom Sachverständigenrat der Bundesregierung in einem eigenen Gutachten indirekt als unplausibel zurückgewiesen werden, dann wird auf beiden Seiten natürlich mit Projektionen bzw. Erwartungen kalkuliert, die manchen als Geltungsanspruch einleuchten, anderen aber eben nicht. Beide sollten wohl aber die selbstkritischen Anmerkungen ihres ökonomischen Kollegen und Statistikers Nassim Taleb zur Kenntnis nehmen, dass wir es bei der Corona-Krise mit einem extremen „fat-tailed process“ zu tun haben, dass also in Pandemien wie dieser die Wahrscheinlichkeit extremer Auswirkungen weit höher liegt als gängige statistische Modelle eingestehen. Für Taleb spricht jedenfalls, dass er als Wissenschaftler und Statistiker weit früher als die meisten vor den gravierenden Auswirkungen gewarnt hat.

Behauptete Alternativen und Alternativlosigkeiten beziehen sich in diesem Sinne auf eine Zukunft, die viel zu nah ist, um mit starken, „wissenschaftlich belastbaren“ Aussagen aufwarten zu können. „Auf Sicht fahren“ mutiert unter diesen Bedingungen zur Tugend. Auch für die Wissenschaft ist dies eine Zeit, das Vokabular der Steuerungsgewissheit zu überprüfen und das ganze Spektrum zukünftiger Projektionen auszuloten – „worst-case“-Szenarien genauso wie Rawls’sche „realistische Utopien“.

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