Entscheidungsarchitektur in der Epidemie

Politiker agieren, wie jedermann, nur begrenzt rational – umso wichtiger ist, dass ihnen die Wissenschaft fundierte und nützliche Informationen bereitstellt.

Von Thomas Hartung, Universität der Bundeswehr München, und Carl-Georg Christoph Luft, Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE

SARS-CoV-2 stellt Staatenlenker vor Szenarien, deren Eintritte und Entwicklungen höchst unsicher sind. Denn jede implementierbare Intervention des Infektionsschutzes lässt verschiedene Pfade zu, an deren Ende ihre Effektivität zur Eindämmung der Epidemie als Ergebnis steht. Bund und Bundesländer erwägen Beschränkungen anhand ihres Potentials, (I) das exponentielle Wachstum der Neuinfektionen zu unterbinden und (II) die absolute Zahl der Neuinfektionen auf eine Größenordnung zu senken, die die Nachvollziehbarkeit der Infektionsketten gewährleistet.

Indes ist die Wissenschaft mit der Aufgabe betraut, politischen Entscheidungsträgern ex ante aufzuzeigen, inwieweit einzelne Einschränkungen (I) den effektiven Reproduktionswert und (II) den Inzidenzwert reduzieren könnten. Die unsicheren Resultate und deren unbekannte Eintrittswahrscheinlichkeiten stellen Politiker vor eine Entscheidung unter Ambiguität. Den hiermit verknüpften Mangel an präzisen Daten könnten sie durch Rückgriff auf heuristische Verfahren zu kompensieren versuchen. Eine Heuristik ist eine allgemeine, einfach anwendbare, meist nicht bewusste Regel, mit der Entscheidungen auch unter ungünstigen Informationskonstellationen schnell und – unter bestimmten Rahmenbedingungen – hinreichend treffsicher gefällt werden können (Stephan 1999). Obwohl solche Automatismen als einfach und intelligent gelten, liegen sie kognitiven Fehlschlüssen zugrunde, deren Intensität von der Entscheidungsarchitektur abhängt.

Die informationelle Rahmung kann die Kognition, wie nachfolgend exemplifiziert, verzerren. In seiner epidemischen Lageeinschätzung weist das Robert-Koch-Institut die absolute Anzahl der gemeldeten Neuerkrankten zusammen mit der Anzahl der COVID-19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung in Form eines kombinierten Säulen- und Liniendiagramms über den Gesamtverlauf der Epidemie aus. Da die SARS-CoV-2-Fallmeldungen der ersten Infektionswelle mit denen der zweiten Infektionswelle aufgrund divergenter Testkapazitäten und -strategien nicht vorbehaltlos vergleichbar sind, stiftet eine solche Zeitraumbetrachtung nur begrenzt informativen Mehrwert.

Vielmehr begünstigt diese Darstellung gar ankerheuristische Fehlwahrnehmungen und verfügbarkeitsheuristische Fehlurteile, wenn der Entscheidungsträger die Entwicklung der künftigen Hospitalisierung anhand der Daten zu Beginn der epidemischen Notlage antizipiert. Fälschlicherweise würde in diesem Fall gefolgert, dass das Neuinfektionsgeschehen im Herbst die Intensivmedizin in gleichem Maße – zeitlich versetzt – beansprucht wie das Neuinfektionsgeschehen im Frühjahr. Der saliente Hochpunkt der Neuinfektionskurve und der Maximalwert der intensivmedizinisch Behandelten könnten als Referenzpunkte fungieren, mithilfe derer die intensivmedizinischen Kapazitäten fehlerhaft geschätzt würden, da periodenbezogene Differenzen in Diagnostik und Behandlungsstandard unberücksichtigt blieben.

Die wissenschaftliche Politikberatung sollte sich solcher Rahmungseffekte gewahr sein. Empfehlenswert ist folglich, epidemiologische Kennziffern unter Beachtung verhaltenswissenschaftlicher Evidenzen über Rezeption und Evaluation von Informationen aufzubereiten. Dies bedingt einen größtmöglichen Verzicht auf Illustrationen der kompletten Epidemiechronologie. Hierdurch ließe sich das Risiko für etwaige politische Fehleinschätzungen, die Entscheidungsarchitekturen vereinzelt triggern, senken, was letztlich der Performanz und Akzeptanz hoheitlicher Eingriffe zuträglich ist.

Quellen:

Stephan, E.: Die Rolle von Urteilsheuristiken bei Finanzentscheidungen. In: Fischer, L.; Kutsch, T. & Stephan, E. (Hrsg.). Finanzpsychologie. München, 1999, 101-134.

Kommentare

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

* Diese Felder sind erforderlich.

Sei der erste der kommentiert