Wir brauchen eine solide Rechtfertigungs-Governance

Matthias C. Kettemann: Mehr Rechtstaatskommunikation ist dringend nötig. Der Raum der Gründe ist gut ausgestattet, aber er muss geöffnet werden

Matthias Kettemann

Von Matthias C. Kettemann, Leibniz-Institut für Medienforschung

Ich wohne seit einiger Zeit auf der Nordseeinsel Norderney. Erstwohnsitzlich Gemeldete durften die Insel die letzten zwei Wochen (mit ganz wenigen Ausnahmen) nicht verlassen. Auf die Fähre zu den Inseln durfte nur, wer bereits mit Erstwohnsitz gemeldet war. Beides wurde von der Inselmehrheit akzeptiert. Seit Montag, 6. April, war es nun auch wieder Handwerkern und Bauarbeitern gestattet, die Fähre zur Insel zu nehmen. Eine Maßnahme, die von den Bauherren begrüßt wurde, aber unter der Inselbevölkerung nicht nur Zustimmung erfährt, besonders da zumindest eine andere Nordseeinsel, die zum nächsten Landkreis gehört, das Zutrittsverbot aufrecht erhält. Das schafft Unsicherheit.

Natürlich können Experimentierräume hilfreich sein, aber es ist deutschen Bürger*innen – ohne intensive Begründungsarbeit – schwer einsichtig zu machen, warum in Bayern die Polizei ausrückt, wenn man alleine auf einer Bank sitzt, in benachbarten Ländern aber nicht. „Nein, ein Buch auf einer Bank zu lesen, ist nicht erlaubt“, heißt es auf dem Twitter-Kanal der Bayrischen Polizei. Das kann man grundrechtlich problematisch, da überschießend, finden (es verschärft auch bestehende Ungerechtigkeiten zwischen Balkon- und Gartenbesitzer*innen und den Anderen). Jedenfalls aber muss man Unterschiede begründen; nur auf Föderalismus zu verweisen bringt nichts. Rechtfertigungsinformation muss sprachlich und medial passend geliefert werden; ein Podcast reicht dazu nicht. Den Rahmen bieten die Auftritte von Bundeskanzlerin Merkel, aber mehr Rechtstaatskommunikation ist dringend nötig. Der Raum der Gründe ist gut ausgestattet, aber er muss geöffnet werden.

Das Recht auf Rechtfertigung (Forst) gilt auch weiterhin, auch wenn die Rechtfertigung situationsbedingt knapper ausfallen kann und die Abwägungsprozesse schneller ablaufen können. Es bedarf also einer behutsamen Governance der Rechtfertigungsinformationsflüsse.

Dies gilt auch online: Gleichzeitig steigt auch der Rechtfertigungsdruck auf die Governance der Informationsflüsse (gerade auch der Rechtfertigungsinformationsflüsse), zumal im Internet. Twitter kündigte an, alle Inhalte zu löschen, die der Verbreitung des Coronavirus zuträglich seien, darunter Posts, die Kritik am Social Distancing und dessen Effektivität übten. Facebook schickte seine Content-Moderator*innen in die Heimarbeit und setzt seitdem zunehmend automatisierte Moderationsprogramme ein. Diese sind fehleranfällig, weswegen etwa Twitter (die auch so vorgehen) automatisierte Löschungen nicht als „Strikes“ gegen den Account zählen. WhatsApp kündigte zuletzt an, die Weiterleitung von bereits weitergeleiteten Nachrichten an Gruppen zu verbieten, um Desinformationsflüsse zu unterbinden (dadurch werden aber auch Informationsflüsse beschränkt). Hier zeigt sich, dass viele Plattformen in der Krise die behutsame Governance von Information als zentrale Aufgabe erkannt haben. Neben der Wiederentdeckung öffentlich-rechtlicher Ausspielkanäle ist dies zumindest ein positiver Effekt der Krise.

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