Fürsorgliche Segregation

Frank Nullmeier: Eine Öffnungspolitik, die nach Risikogruppen sortiert, bedeutet den Einstieg in einen diskriminierenden Sozialstaat

Frank Nullmeier

Von Frank Nullmeier, Universität Bremen

Nach mehreren Wochen des Lockdowns zur Einhegung der COVID-19-Epidemie gibt es mindestens drei Arten, einen Lockerungs- und Öffnungsprozess zu vollziehen: Die erste Möglichkeit besteht darin, nach Sektoren gesonderte und zeitlich gestaffelte Regelungen zu erlassen. Pauschaliert werden hier Kirchen, Kaufhäusern und Baumärkten, Sportplätzen und Schulen, Friseurläden und Fitnessstudios unterschiedliche Gefährdungspotentiale zugeschrieben, die die Grundlage für eine Rangfolge der Wiedereröffnung bilden. Dies ist die aktuell vorherrschende Strategie. Die zweite Strategie erlegt allen Einrichtungen der Gesellschaft gleichermaßen auf, ein Hygiene- und Kontaktkonzept vorzulegen, das sicherstellt, dass auch bei größerem Andrang die erforderlichen sozialen Distanzen gewahrt werden können. Alle Sektoren werden gleichbehandelt, aber es bedarf eines erheblichen Ausmaßes an Einzelprüfungen.

Angesichts der Nachteile dieser beiden Optionen wächst auch unter jenen, die die Grundrechte gegen eine staatliche Überregulierung und eine vermeintlich drohende Hygienediktatur schützen wollen, die Vorstellung, man solle nach Risikogruppen differenzieren. Demzufolge wäre eine allgemeine Öffnung zugelassen, von der, eventuell abgestuft, bestimmte Personengruppen ausgeschlossen wären. Damit diese dritte Strategie nicht zu einer häuslichen Dauerisolierung führt, werden spezielle Einkaufszeiten für Senior*innen in Supermärkten, gesonderte Öffnungszeiten in Museen, oder Besuchsverbote für Heimbewohner*innen vorgeschlagen. Diese Exklusion von den Lockerungen beträfe, so die öffentliche Verwendung des Wortes „Risikogruppe“, die über 60-Jährigen und Personen mit Vorerkrankungen. Wie Daten aus anderen Ländern zeigen, weisen ethnische Minderheiten, Migrant*innen und Wanderarbeiter*innen aber besonders hohe Ansteckungsraten auf. Auch auf sie könnte bald die Kategorie der Risikogruppe angewendet werden. Dann würden bestehende Exklusionen gedoppelt und epidemiologisch begründet auch noch institutionalisiert.

Ganz unabhängig davon, wer schließlich dazuzuzählen wäre: Bereits die Idee einer Differenzierung nach Personengruppen ist fragwürdig. Zunächst sind wir alle gleich – und zwar als Gefährder*innen. Jede Person wird für jede andere Person ohne strikte Hygieneregeln zur (Ansteckungs-)Gefahr, da sie nicht wissen kann, ob sie bereits infiziert ist. Erst die Risiken, die aus einer Ansteckung erwachsen, sind ungleich verteilt.

Sozialstaatlich Handeln hieße, einen Risikoausgleich herzustellen: Die Gefährder*innen wären idealiter mit denen, die erhöhten Risiken ausgesetzt sind – mögen sie einer statistisch definierten Gruppe angehören oder nicht – so zusammenzubringen, dass alle sich wechselseitig versichern können, die Schäden beim jeweils anderen möglichst gering zu halten oder zu kompensieren. Bei Risiken im Arbeitsleben heißt ein solches Arrangement: Sozialversicherung. Die Unfallversicherung liefert das grundlegende Muster eines solchen Ausgleichs zwischen Gefährder*innen und Risikoträger*innen. Die Segregation der Bevölkerung nach Sterbenswahrscheinlichkeiten im Infektionsfall bedeutet das Gegenteil dieser Strategie des Risikoausgleichs. Sie wäre ein sozialpolitischer Gau, weil derartige Segregationen auch auf eine Sozialpolitik im pandemiefreien Normalfall anwendbar wären. Die Folge wäre ein diskriminierender, kein dem Gleichheitsgebot verpflichteter Sozialstaat.

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